Straße nach Nirgendwo
Montag, 5. November 2007, der dritte Tag in Santiago de Compostela. Erfolgsbilanz der bisherigen Suche nach dem Jakobsweg: Null. Heute gehe ich es mit der Brechstange an, denke ich mir, während mir einfällt, dass ich ja noch einmal im „Gorges-Handbuch“ über die Europäischen Fernwanderwege nach irgendwelchen Anhaltspunkten suchen könnte. Und da finde ich auf Seite 49 unter Abschnitt 3.1 – Galicien: „Traditionelle Bezeichnung des Jakobsweges/Camino de Santiago: Symbol „Muschel“ und gelbe Pfeile! Gelbe Pfeile? Da war doch was! Die habe ich doch gestern irgendwo gesehen.
Hans wacht allmählich auf. Er hat sich gestern noch lange im „Matadero“ aufgehalten und sieht – trotz Alkohol-Abstinenz – so aus, als wäre er in einen Mähdrescher geraten. Überflüssig, zu fragen, ob er heute mit auf Tour geht. Auf seinem Nachttisch sehe ich aber einen Stadtplan von Santiago d.C. Das könnte die Lösung sein, denke ich. Doch war wohl kaum damit zu rechnen, dass in diesem Stadtplan auch der Jakobsweg eingezeichnet ist. Trotzdem schau ich mir den Stadtplan genau an und stelle fest, dass meine 2,99-Euro-Lesebrille vom Schnäppchenmarkt doch nichts taugt.
Aus Gesprächen in der Kneipe gestern konnte ich entnehmen, dass ich mich in Richtung Lugo orientieren soll. Richtung Ost-Südost müsste passen. Und um den Camino nicht zu verfehlen, beschließe ich, mich von der Straße nach Lugo noch weiter in südlicher Richtung zu halten, um dann in einer strickten Nordroute irgendwo auf dem Monte de Gozo oder bei Labacolla auf das Muschelsymbol zu stoßen. Vielleicht sollte ich mir vorher aber eine Wanderkarte kaufen. So schaue ich noch einmal in den „Gorges“, um zu erfahren, welche Wanderkarte empfohlen wird. Und was muss ich lesen: Euro-Regionalkarte Spanien, Blatt 1, Maßstab 1:300.000. Da hätte ich mir auch gleich meinen Plastik-Globus von zu Hause mitnehmen können.
Nicht weit von unserem Hostal Giardas gibt es eine Bushaltestelle. Vielleicht finde ich auf dem Busfahrplan irgendwo die Orte Monte de Gozo oder Labacolla, oder wenigstens Lugo. Doch auch dort habe ich kein Glück. Über 20 Buslinien sind dort aufgelistet, doch von den gesuchten Orten keine Spur. So beschließe ich, mich an meinem Garmin Geko 201 zu orientieren und einen Weg in Richtung Südost zu suchen. Nur etwa 40 Meter gehe ich vom Plaza de Matadero nach rechts und finde einen Wegweiser in Richtung Lugo. Das kann nicht verkehrt sein, denke ich, und wandere durch die Rua San Pedro. Das Geko zeigt stets Richtung Südost an. Na Bestens, dann müsste ja auch bald eine Abzweigung in Richtung Monte de Gozo kommen. Und tatsächlich: Nach drei bis vier Kilometern hängt da eine große, braune Tafel mit der Aufschrift „Monte do Gozo“. Erst am nächsten Tag wird mir auffallen, dass ich hier bereits auf dem Jakobusweg war.
Der Weg führt mich über eine Eisenbahn- und Autobahnbrücke auf teilweise abenteuerlichen Holzplanken aus Santiago heraus. Seit geraumer Zeit befinde ich mich auf der N 457 in Richtung Aeroporte und Lugo. Ich folge der Straße um eine Linkskurve und biege dann rechts ab – dem großen Schild „Monte do Gozo“ folgend. Die breite Asphaltstraße führt nach einem Linksknick an das Domizil eines Steinhauers. Ich bin begeistert: In Stein gehauene Jakobsmuscheln, Heiligenfiguren und Jesuskreuze. Hier muss ich richtig sein. Der Weg führt über den Monte do Gozo, sagt mir die Gorges-Wegbeschreibung. Also muss es wohl erst einmal aufwärts gehen, denke ich mir und biege rechts ab. Ein kleiner, aber entscheidender Fehler, wie sich später herausstellt. Wäre ich hier geradeaus gegangen, hätte ich mir einen 4-stündigen Fußmarsch um eine große Südschleife erspart. Doch im Nachhinein kann ich sagen, dass dieser Abstecher ins Ungewisse äußerst interessant war.
Es ist wieder Kaiserwetter angesagt. Der Weg auf die Kuppe bringt mich ganz schön ins Schwitzen. Und das am 5. November im angeblich regenreichsten Gebiet Spaniens. Ich folge der aufgehenden Sonne und passiere das Areal eines Campingplatzes im Winterschlaf. Weiter in Richtung Südosten gelange ich wieder auf eine Landstraße und schließlich an einen Verkehrskreisel. Es beschleicht mich das Gefühl, zu weit südlich abgedriftet zu ein. Also folge ich dem Weg 90 Grad links und bin wieder auf Kurs Ost. Der Abschnitt ist wenig erbaulich. Kerzengerade Straße und viel Bauarbeiten mit dem dazugehörigen Lärm und Teergestank. Doch schon bald nimmt die Straße wieder südliche Richtung an. Nach einer Stunde etwa passiere ich die kleine Siedlung „Al Penne“ – jedenfalls steht das auf dem grünen Schild an der Straße. Nur einen Kilometer weiter entdecke ich erneut ein grünes Schild an einer Siedlung, auf dem „Lioba“ steht. Bei der kleinen Rast an einer Bushaltestelle denke ich darüber nach, ob „Al Penne“ wirklich ein Ortsname ist. Vielleicht heißt es ja „Aus der Pfanne“ oder so. Ja, man sollte wirklich etwas Spanisch verstehen, wenn man nach Galicien kommt.
Von Liobo aus blicke ich auf ein schönes, weites Tal mit sanften Hügeln. Die Landschaft wird durch einen gewaltigen Brückenbau in weiter Ferne unübersehbar verschandelt. Dann nähere ich mich einer etwas größeren Ortschaft. Ob das etwa Labacolla ist? Vergeblich suche ich an den ersten Häusern nach einem Ortsschild. Nichts! Ich erreiche die Hauptstraße an der „Bar Victor“, die natürlich noch geschlossen ist. Etwas weiter oberhalb entdecke ich einen kleinen Lebensmittelladen.
Dort hole ich mir eine Cola und versuche, die junge Verkäuferin nach dem Namen des Orts zu befragen. Außer Kopfschütteln kam dabei nicht viel heraus. In Labacolla, das wurde deutlich, war ich jedenfalls nicht. Wie-viele-Kilometer-bis-Labacolla?, wollte ich wissen. Und dann zeigte sie mir alle zehn und noch einmal 2 Finger. Zwölf Kilometer? Au Backe! Jetzt muss ich aber schnell Richtung Norden einschlagen. So hole ich wieder das Geko-GPS aus dem Gepäck und folge der Hauptstraße abwärts in Richtung Norden. Sie bringt mich an einen kleinen Parkplatz vor einer Bachbrücke, wo ich mich zu einer Orientierungspause entschließe. Auch an der Hauptstraße finde ich am Ortsausgang kein Ortsschild.
Ein Straßenpoller trägt die Aufschrift AC 261 – 7 km. Um später einmal zu rekonstruieren, wo ich überhaupt war, notiere ich die Koordinaten aus dem GPS: N 42 Grad 51,676 / WO 08 Grad 29,843. Seehöhe 187 m ü. NN bei plusminus 11 Metern Genauigkeit. Es ist 12.09 Uhr und 23 Grad C warm. Vor mir liegt ein Serpentinenanstieg, der schon wieder in Richtung Süden abzudriften scheint.
Nach 300 Metern bestätigt sich bereits der Verdacht und ich beschließe, nun nach GPS-Kompass zu wandern. Hier bietet sich ein Schotterweg an, der an einem großen Privatanwesen am Hang vorbeiführt. Die Richtung stimmt. Hoffentlich ist es keine Sackgasse und hoffentlich sind die beiden großen Hunde eingezäunt, denke ich, und marschiere los gen Norden. (Fortsetzung folgt).