Auf dem Europäischen Fernwanderweg E 3 – Teil 1: Ankunft in Santiago
Unveränderter Erlebnisbericht vom November 2007 von Gerd Baumung
Fernwanderwege üben auf Outdoor-begeisterte Leute eine ganz besondere Faszination aus. „Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich“, sagt ein Sprichwort (von wem auch immer), und das kann man tatsächlich nachvollziehen, wenn man Wochen, Monate oder gar über Jahre hinweg auf einem solchen Fernwanderweg unterwegs ist. Im Schritttempo die wechselnden Natur- und Kulturlandschaften zu erleben – das erzeugt einen ganz anderen, nachhaltigeren Eindruck als wenn man mit Auto, Fernreisezügen oder Flugzeug von einem zum anderen Punkt der Welt reist. Und einem dieser großen Europäischen Fernwanderwege habe ich mein besonderes Augenmerk gewidmet: Dem E 3, der früher auch Atlantik-Ardennen-Wanderweg genannt wurde und in Deutschland mit einem blauen Andreaskreuz gekennzeichnet ist. Durch seine neuzeitliche Erweiterung führt er vom Wallfahrtsort Santiago de Compostela gegen den Pilgerstrom auf dem Jakobusweg (Camino de Santiago) über die Pyrenäen zunächst durch Frankreich, Belgien und Luxemburg, von dort dann quer von West nach Ost durch Deutschland und schließlich in zwei Varianten über Polen oder die Slowakei, Bulgarien, Rumänien bis nach Istanbul. Die hessischen Streckenabschnitte von Kaub am Rhein nach Butzbach (17. Etappe) sowie von Butzbach nach Fulda (18. Etappe) kenne ich bereits. Nun wollte ich unbedingt wissen, wie der über 7000 Kilometer lange E 3 ganz am Anfang aussieht und flog vom 3. bis 8. November 2007 mit meinem ehemaligen Wohnungsgenossen Hans Reichwein nach Santiago de Compostela, der Hauptstadt Galiciens im äußersten Westen des europäischen Kontinents.
Jakobspilger vor der Kathedrale
Völlig übermüdet sitzen wir am Samstag, 3. November 2007, im Café Derby im Zentrum von Santiago. Die Abflugszeit um 6.45 Uhr hatte in der vergangenen Nacht keinen Schlaf zugelassen und das zweistündige Dösen in der Boeing 737-800 von Ryanair war auch nicht sonderlich erholsam. Ryanair hat sich in letzter Zeit wieder eine Menge zur Gewinnsteigerung einfallen lassen. Nicht nur, dass das Parken für eine Woche mittlerweile 40 Euro kostet und das Gepäck mit 18 Euro extra zu Buche schlägt. Jetzt gibt es auch noch den „Prioritätszuschlag“ – das heißt: Extra zahlen, wenn man einen Fensterplatz wünscht. Darauf haben wir natürlich verzichtet in der Hoffnung, irgendeinen guten Platz zu ergattern, wenn man rechtzeitig in der Abflugshalle steht. Aber: Auch wenn die Maschine nur halb besetzt ist, werden die nicht verkauften Plätze nunmehr gesperrt. So saßen wir am Mittelgang und weil die Fluggäste in unserer Sitzreihe den Lichteinfall oberhalb der Wolkengrenze als störend empfanden, war der Spaß am Fliegen deutlich eingeschränkt. Dafür aber empfing uns in Spanien ein herrlicher Morgen. Die Busfahrt durch die in Nebel gehüllte Hügellandschaft war ein echtes Erlebnis. Für drei Euro pro Person brachte uns der Bus in nur 15 Minuten ins Zentrum von Santiago. Nun galt es, erst einmal eine Bleibe zu finden.
Hostal Giadas – unsere mäßige Unterkunft
Schnell stellen wir fest, dass hier im Gegensatz zu den südlichen Touristenhochburgen Spaniens niemand deutsch spricht und nur ganz wenige englisch verstehen. Und unsere Spanischkenntnisse beschränken sich auf das Bestellen von Milchkaffee oder Bier. Während Hans im Café Derby auf das Gepäck aufpasste, klapperte ich die Straßen im Zentrum der 93.000-Einwohnerstadt nach einer Pension oder einem Hotel der unteren Preiskategorie ab. Im November soll es ja nach eigener Recherche keinen Mangel an freien Zimmern in Santiago geben. Dennoch dauerte es Stunden, bis wir mit dem Hostal Giadas am Plaza del Matadero endlich Glück hatten. Eine 3-Sterne-Pension am Rande der „Zona Monumentale“, von der wir nicht genau wissen, ob man sie weiterempfehlen soll. In der Preisliste war eindeutig zu lesen, dass das Doppelzimmer zur Hauptsaison 45 Euro und ansonsten 30 Euro kostet. Offenbar gehört der November nach dem Ermessen des Gastgebers noch zur Hauptsaison und ein Frühstück war im Preis nicht inbegriffen. Für 3,75 Euro bekamen wir morgens einen Croissant und einen Milchkaffee. Somit stand fest: Bleiben wir lieber nachts länger in den Kneipen und verzichten aufs Frühstück!
kein erbaulicher Ausblick aus dem Fenster…
Wer den berühmten Jakobus-Pilgerweg in entgegen gesetzter Richtung angehen will, macht es sich nicht leicht. Warum also nicht einfach der Pilgerroute in westlicher Richtung folgen? Es gibt da ein Handbuch von Hans-Jürgen Gorges aus dem Kompass-Verlag. Es trägt den Titel „Auf Tour in Europa“ und beinhaltet eine hervorragende Übersicht zu allen Europäischen Fernwanderwegen. Und daraus geht auch hervor, dass der Fernwanderweg E 3 eindeutig von West nach Ost und nicht umgekehrt verläuft. Lediglich in Spanien und im Südwesten von Frankreich verläuft der E 3 gleichauf mit dem „Camino“. Mir war schon vor Reiseantritt klar, dass es nicht einfach sein wird, den richtigen Weg aus Santiago hinaus zu finden, denn die Wegmarkierung – die berühmte Jakobsmuschel – ist nur in Richtung Westen (wenn überhaupt) gut zu verfolgen. Das empfohlene Kartenmaterial im Maßstab von 1:300.000 kann dabei auch keine Hilfe sein. Von daher habe ich mir auch keine Illusionen gemacht, im ersten Anlauf bereits einen größeren Abschnitt der ersten Etappe von Santiago bis Ponferrada entdecken und bearbeiten zu können. Ziel dieser Mission war lediglich, Santiago de Compostela kennen zu lernen und von der berühmten Kathedrale auf den Jakobsweg bzw. den Fernwanderweg E 3 überhaupt zu finden. Und das war – wie sich herausstellen sollte – aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse mit großem Aufwand und ausgedehnten Erkundungstouren in und außerhalb des Stadtbereichs von Santiago d. C. verbunden.
Straßencafe im Zentrum
Nachdem endlich das Gepäck im Zimmer verstaut war, hatten wir Gelegenheit, den versäumten Schlaf nachzuholen. Die ersten Eindrücke von Santiago haben uns aber so fasziniert, dass wir uns sofort auf Entdeckungstour durch die Stadt machten. Die Müdigkeit war wie weggeblasen, das Wetter (klarer Himmel bei 24 Grad Celsius) einfach ideal. Vom Plaza del Matadero gelangt man über eine uralte Treppe zum Marktplatz, auf dem an Wochenendtagen stets Hochbetrieb herrscht. Hier glaubt man, um Jahrhunderte zurückversetzt zu sein. Schilder weisen uns den Weg durch die „Zona Monumentale“ mit ihren engen, malerischen Gassen und den wahrlich bemerkenswerten Bauwerken. Und schließlich stehen wir vor dem Ziel unzähliger Pilger aus allen Teilen der christlichen Welt: Der berühmten Kathedrale, in der sich das Grab des Apostels Jakob befinden soll. Wir haben uns bei wikipedia.de über Santiago schlau gemacht: Dort heißt es: „Der Name setzt sich zusammen aus Santiago (dt.: heiliger Jakob), was über die Zwischenform Sant Jago eine abgeschliffene Form von lat. Sanctus Iacobus darstellt, und Compostela. Der zweite Namensteil wird verschieden gedeutet. Volksetymologisch und wegen der Erwähnung einer Lichterscheinung in Zusammenhang mit dem Jakobsgrab wird gern das lateinische campus stellae – Sternenfeld angenommen“. (Zitat Ende). Somit ist die freie Übersetzung meines Reisegefährten Hans (Compostela = Misthaufen) wissenschaftlich widerlegt.
Markt in der Zona Monumentale
Nach anfänglichem Zögern wagen wir uns in die Nähe des Westportals der Kathedrale. Dort stehen ein paar Sicherheitsbeamte und direkt am Eingang kniet ein Bettler mit ausgestrecktem Plastikbecher. Ich frage mich, wie er zum Privileg dieses lukrativen Standorts kam. Gespendet haben wir aber lieber dem „Jazzman“, der ein paar Meter weiter um die Ecke mit E-Gitarre und Marshall-Verstärker starke Rhythm&Bluestöne von sich gab. Auf ihn kommen wir noch zurück. Zunächst aber noch Wissenswertes zur Kathedrale, die wir vorsichtig und andächtig während einer laufenden Messe betreten. Der Klang der gewaltigen Orgel und der riesige vergoldete Baldachin über dem Altar hinterlassen einen unvergesslichen Eindruck. Menschen aus aller Welt stehen auch während der Messe in langen Schlangen, um in einem schmalen Treppengang zur großen Sitzfigur des heiligen Jakobus zu gelangen und diese als Zeichen der Ehrerbietung zu umarmen. Wikipedia weiß darüber: „Jakobus der Ältere war einer der zwölf Jünger Jesu, Sohn des Zebedäus und Bruder von Johannes. Der Legende nach ging er gleich nach Christi Himmelfahrt nach Spanien, um dort zu missionieren, allerdings mit wenig Erfolg. Es ist jedoch äußerst unsicher, ob etwas daran stimmt. Er kehrte zurück nach Palästina und wurde dort schließlich von Herodes Agrippa I. von Judäa im Jahre 43 geköpft. Nach der in Spanien weit verbreiteten Legende wurde sein Leichnam in ein Boot gelegt, das dann an die Küste Spaniens getrieben wurde. Oder seine Jünger Atamasius und Theodorus brachten ihn in einem Boot in sein Missionsgebiet Spanien und setzten ihn in einem Steingrab an der Stelle der heutigen Stadt Santiago de Compostela bei. Nach einer anderen in Kirchenkreisen verbreiteten Legende schenkte Kaiser Justinian den Leichnam dem Sinaikloster. In den Stürmen des Islam brachten Mönche seinen Leichnam in Spanien in Sicherheit. Als der Islam auch Spanien eroberte, vergrub man den Heiligen in der römisch-suebischen Nekropole, die man dann Anfang des 9. Jahrhunderts entdeckte“.
Weiter wird ausgeführt: „Damals, oft wird das Jahr 813 genannt, hatte der Eremit Pelayo eine Lichterscheinung. Man meldete das Bischof Theodomir, dem Bischof der Provinz Iria Flavia, der sofort erklärte, die an diesem Ort ausgegrabenen Gebeine seien die Gebeine des Heiligen Jakobus. Sehr schnell entwickelte sich der Ort unter Alfons II. von Asturien (789 – 842) zu einem Wallfahrtszentrum und man baute an der Stelle der römisch-suebischen Nekropole eine Kirche. Um die Kirche herum entstand die schnell wachsende Stadt Santiago de Compostela. Wahrscheinlich bekam sie diesen Namen von Papst Urban II. im Jahre 1095. Die einschiffige Kirche wurde bald zu klein. So wurde 872 unter Alfons III. mit einem größeren dreischiffigen Bauwerk begonnen. Am 10. August 997 zerstörte Almansor, der große Heerführer des Kalifen von Córdoba, die Stadt und die Kathedrale. Erst unter Alfons VI. wurde die Kirche neu aufgebaut. Die Arbeiten begannen nach verschiedenen Quellen entweder 1075 oder 1078. Um diese Zeit wurde Santiago de Compostela neben Rom und Jerusalem zum bedeutendsten Wallfahrtsort der Christenheit“ (Zitat Ende).
Nach eingehender Besichtigung der Kathedrale setzen wir unseren Bummel durch die herrliche Zona Monumentale fort und kommen aus dem Staunen über die vielen prachtvollen Bauwerke gar nicht heraus. An rund 50 Bauwerken befinden sich Erläuterungstafeln mit einer knappen Beschreibung in englischer Sprache. Dennoch sind wir uns einig, bis zum nächsten Besuch fleißig spanisch zu lernen. Was uns aber ganz spanisch vorkam, war die Tatsache, dass trotz des bereits vor Jahren in Spanien verhängten Rauchverbots in öffentlichen Lokalen überall gequalmt wurde. Und zwar nicht nur in den Bars und Cafés, sondern auch in den berühmten Feinschmeckerlokalen der Rúa de Franco. Auch in unserer 3-Sterne-Herberge war das Rauchen in der Bar ebenso wie auf den Zimmern gestattet. Uns als Rauchern konnte das ja nur recht sein, aber damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet. So dürfte es mit dem Zigaretten- bzw. Tabakproviant doch etwas enger werden.
Mit einem Kneipenbummel endete der erste Tag unserer Entdeckungsreise. Überall regierte König Fußball und wir staunten darüber, wie oft Real-Trainer Bernd Schuster im Mittelpunkt des Medieninteresses stand. Und mit diesen Eindrücken ging es dann endlich in die Betten. (Fortsetzung folgt).